Mutter Marie

† 18. November 1916

Im Menschheitsweh das kleine Menschenleid,
Und doch so herb und hart
Dass sich für einen Tag die Not der Zeit
Verflüchtet in der eignen Gegenwart.

1

In diesem Jahr der erste Winterschnee,
Wie tut er meinem Herzen weh!

Er fiel im Dunkel und hat nach Mitternacht
Manch kranker Blume den Tod gebracht.

Die Welt am Morgen lag so bleich und leer.
Da hatten wir keine Mutter mehr.

2

Die mir das Leben gegeben,
Zahlte dafür mit ihrem Leben -
Mutter Anna, ich kannte sie nie.
Seit meine Augen schauen,
Sahn sie als liebste der Frauen
Meine gute Mutter Marie.

Ach, mir blieb an die Eine
Nur der Nam auf dem Leichensteine;
Auch im Bilde sah ich sie nie.
Doch ich fühlte nicht, dass sie fehle:
Mir erzog so Leib wie Seele
Ihre gute Schwester Marie.

Heute bin ich Waise
Denn es ging die Himmelsreise
Meine gute Mutter Marie.
Und im brennenden Liebesleide
Trag ich vereint die Schwestern beide,
Meine Mutter Anna Marie.

3

Wie ruht sie unterm Glassargdache,
So schön, so friedlich, schwarz und bleich,
Ein Bild, so ganz dem Leben gleich,
Dass ich ganz leise, leise mache,
damit sie nicht zu früh erwache.

Das weiche Tuch aus weisser Wolle
Umrahmt wie sonst ihr sanft Gesicht;
Ich kann es einmal fassen nicht,
Dass all dies Lieb- und Demutvolle
Nicht mehr zum Licht erwachen solle.

Verklärend blüht auf ihren Zügen
Des reinen Lebens Widerschein.
Ich trink ihn mit der Seele ein:
Er wird mir lange noch genügen
Die Not des Scheidens zu betrügen.

4

Ich ging in all den Jahren
Nicht einmal von dir fort,
Du hättest mich gesegnet
Mit einem Kuss, mit einem Wort,
Mit einem Kreuzlein auf der Stirne.

Erst als ich dieser Tage
Dich liess, am Leben wund,
Da musst ich von dir scheiden
Mit warmem Blick, mit warmem Mund,
Doch ohne Kreuzlein auf der Stirne.

Nun bist du ganz gegangen
Ich schreite wie verirrt;
Ich suche und ich merke,
Dass mir noch lange fehlen wird
Dein letztes Kreuzlein auf der Stirne.

5

Du hast in jungen Jahren
Viel Leid und Not erfahren
Und auch dein Frauenlos
Ward nicht der Sorge bloss.

Dann kam ganz sachte, sachte,
Der Frieden in das Haus;
Dein Witwenauge lachte
Nach neuer Hoffnung aus.

Die Kinderschar erblühte
Zur Freude dir und Dank
Und alle Bangnis sank
Dir mählich vom Gemüte.

Es ward dein Abend stille.
Doch mit den Sorgen brach
Dein starker Lebenswille:
Du starbst der letzten nach.

6

Dein Leben war ein Dienen nur
Für uns und viele andern.
Nun darfst du ruhn. Wir wandern
Und folgen deiner Spur.

7

Das alte Haus war sonst zu eng
Für all des muntern Lebens Gedräng.

Nun stehn die meisten Stühle leer,
und wer drauf sass, kehrt nimmermehr.

Wir rücken um den Ofen nah
Wir denken derer, die nicht da.

Wir frösteln und wir sitzen stumm:
Die Geister des Hauses gehen um.

8

Ich suche dich in Küche und Kammer
Und nirgends find ich dich.
In all dem Herzensjammer
Leid ich besonders um mich.

Wie heiss ich dir ein Ostern gönnte,
- Geh nicht mit mir ins Gericht! -
Wenn ich zurück dich rufen könnte,
Herzliebste, ich wagte es nicht.
Die Welt wird täglich minder
Erfreulich. Mir graut in ihr.
Hätt ich nicht Weib und Kinder,
Ich wär am liebsten, o Mutter, bei dir.

9

Ich habe leichten Knabenmutes
Dir angetan so manche Pein;
Wohl auch betrübt dich schwerbeherrschten Blutes,
Weil ich mir treu musst sein.

Doch sah ich oft dich stolz erröten,
Wenn ich dir Freud und Trost gebracht
Das ist, was mich in diesen Herzensnöten
Zuweilen glücklich macht.

10

Wenn Liebeswerke den Weg bereiten
Zum Born des Heils im Lebensfeld,
So durftest du eine Strasse schreiten,
Wie niemals sie fuhr ein Kronenheld.

Dir schwebten Englein mit Sternenkerzen
Vorauf und zu beiden Seiten hin -
O Mutter mit dem reichen Herzen
Aller Betrübten Trösterin!

11

Ich wandle durch die Heimatfluren
Den altvertrauten Pfaden nach.
Ich trete meiner Kindheit Spuren
Und halt' mit Schatten Liebessprach.

Wie liegt so still die Felderbreite!
Spätherbst übt strenge Sonntagsruh.
Es tröpfelt kühl. Ich aber schreite
Querdurch, stets neuen Bildern zu.

Hier wird gepflanzt, dort wird gegraben
Im Morgenschein, im Abendgrau,
Und immer von demselben Knaben
Und immer von derselben Frau.

Da wirft der Klee sich um im Schwunge
Dort glitzert die Kartoffelhau
Und immer ist's derselbe Junge
Und immer ist's dieselbe Frau.

So geh ich durch den Sommersegen
Und durch der Jahreszeiten Ring
Und hasch mir im Novemberregen
Manch flügelbunten Schmetterling.

Doch alle meine Pfade enden
Auf einer kreuzbewachsnen Au;
Dort lehnt ein Mann mit feuchten Händen
Am frischen Grabe einer Frau.

12

War uns beiden ein Lied vertraut,
Eine wortlos schlichte Weise.
Sassen wir zusammen traut,
Unsre Herzen sangen sie leise.

Ging oft von dir, weit, recht weit,
Doch das Lied zog mit auf die Reise.
Gern zur stillen Abendzeit
Sprach zu mir dein Herz aus der Weise.

Jetzt fehlst du beim Zwiegesang,
meine Sehnsucht flattert im Kreise.
Und mein Herz muss bannen die Weise
Ach, in Worte mit traurigem Klang.

(Gesammelte Werke, Band I: Gedichte. Verlag Georg Westermann, Braunschweig 1925)

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